Patrick Gebhardt

Dienstag, 3. Dezember 2024

Eine Geschichte erzählt von Patrick Gebhardt

Gefährlicher Alltag — Plastiktüten

Du hast es in der Hand!

„Die gefährlichste Straße Deutschlands“ – so nennen Bild-Zeitung und vergleichbare Schmuddelblätter meine Straße gern, besonders wenn Wahlen anstehen und Fremdenhass als Stimmenmagnet herhalten muss. Ich lebe hier seit Jahren und weiß es besser: Die Leipziger Eisenbahnstraße ist viel entspannter, als ihr Ruf vermuten lässt. Zwischen arabischen Supermärkten — die hier in der höchsten Dichte des Ostens vertreten sind (Berlin ausgenommen) — und einem großen Straßenmarkt am Wochenende pulsiert das Leben. Dabei sticht eine Sache sofort ins Auge: dünne Plastiktüten. Sie sind allgegenwärtig und längst zu einem inoffiziellen Symbol des Straßenbildes geworden. Und das nicht nur hier — trotz EU-weiter Einschränkungen für ihren Gebrauch sieht man sie noch viel zu oft. Als Wegwerfprodukt par excellence hinterlassen sie jahrzehntelange Spuren in unserer Mitwelt und richten bei zahlreichen Lebewesen teils schwere Schäden an. Tatsächlich sind diese, oft blauen, Tüten das Gefährlichste, was die Eisenbahnstraße zu bieten hat — nicht nur wegen ihrer verheerenden Umweltwirkung, sondern auch, weil sie zeigen, dass die Plastiktüte noch lange kein Auslaufmodell ist.

Plastiktüten scheinen auf den ersten Blick harmlos…

… sie sind leicht, flexibel, günstig und überall erhältlich — ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand, dem die meisten kaum Beachtung schenken. Man nutzt sie im Durchschnitt gerade einmal 20 Minuten. Doch genau darin liegt das Problem. Ihre scheinbare Banalität verdeckt die gravierenden Umweltfolgen: Plastiktüten bestehen überwiegend aus Polyethylen, dem weltweit am häufigsten produzierten Kunststoff. Dieser zersetzt sich biologisch nur extrem langsam. Währenddessen gelangt Mikroplastik in Böden, Gewässer — und letztlich in unsere Nahrungskette.

Noch vor wenigen Jahren wurden in Deutschland jährlich mehr als zwei Milliarden Plastiktüten verbraucht — die meisten davon landeten nach nur einmaliger Nutzung im Müll oder, schlimmer noch, in der Natur. Um dem entgegenzuwirken, ist seit dem 1. Januar 2022 das Inverkehrbringen leichter Plastiktüten hierzulande komplett verboten. Diese Maßnahme setzt die EU-Kunststoffrichtlinie um, die verbindliche Vorgaben zur Reduzierung von Plastikmüll für alle Mitgliedstaaten vorschreibt.

Der Weg dorthin war lang. Jahrzehntelang waren Plastiktüten so selbstverständlich wie der Kassenzettel beim Einkaufen. Selbst das 2016 eingeführte kostenpflichtige Plastiktütensystem führte zunächst nur zu zaghaften Fortschritten. Erst das flächendeckende Verbot brachte ein vorsichtiges Umdenken — sowohl bei Verbrauchern als auch bei Einzelhändlern.

Die Tüten anderer Länder

Warum dieses Umdenken jedoch bei Weitem nicht ausreicht, erfährst du gleich. Davor noch ein vergleichender Blick in die Welt hinaus, denn Deutschland ist bei Weitem nicht das erste oder einzige Land, das Maßnahmen gegen Plastiktüten ergriffen hat.

Afrika

Auf dem afrikanischen Kontinent gelten Ruanda, Kenia und Tansania als Vorreiter im Kampf gegen Plastiktüten. Einwegplastiktüten sind dort bereits seit über einem Jahrzehnt vollständig verboten. In Ruanda nehmen es die Behörden besonders genau: Schon bei der Einreise werden Touristen am Flughafen kontrolliert, und Plastiktüten werden konsequent eingezogen. Verstöße gegen das Verbot ziehen empfindliche Geldstrafen nach sich, in manchen Fällen sogar Haft. Diese kompromisslose Haltung hat dazu geführt, dass Städte wie Kigali heute nahezu plastikfrei sind (und damit nicht nur frei von Plastiktüten, sondern auch u.a. von Plastikflaschen, -bechern und sonstigen Verpackungen).

Asien

In China sind Plastiktüten seit 2008 kostenpflichtig, und besonders dünne Tüten wurden komplett verboten. Diese Maßnahme zeigt Wirkung, auch wenn der Plastikmüll weiterhin eine Herausforderung bleibt. Bangladesch ging sogar noch einen Schritt weiter: Bereits im Jahr 2000 war es das erste Land der Welt, das Plastiktüten vollständig verbot. Der Anlass war ernst — während der Monsunzeit verstopften sie Abwassersysteme und verursachten teils schwere Überschwemmungen. In Indien gelten strikte Verbote für Plastiktüten in der Nähe des heiligen Flusses Ganges, doch die Durchsetzung der Regelungen bleibt vielerorts schwierig.

Europa

In Europa präsentiert sich ein vielfältiges Bild. Dänemark ergriff als erstes Land strikte Regeln. Bereits seit 1994 zahlen Kund:innen für jede Tüte, was beeindruckende Ergebnisse zeigt — der durchschnittliche Verbrauch liegt bei lediglich 4 Tüten pro Person und Jahr. Frankreich folgte 2016 mit einem Verbot von Einwegplastiktüten, während Italien diesen Schritt schon 2011 wagte. Beide Länder setzen auf Alternativen aus biologisch abbaubaren Materialien und ahnden Verstöße mit hohen Geldstrafen. Die EU verfolgt mit ihrer Kunststoffrichtlinie ein genaues Ziel: Bis 2025 soll der Verbrauch auf 40 Plastiktüten pro Kopf und Jahr sinken. Eine Ausnahme bilden auch dort sogenannte „Hemdchenbeutel“.

Nordamerika

In den USA liegt die Regulierung von Plastiktüten in der Verantwortung der einzelnen Bundesstaaten — mit teils überraschenden Ansätzen: Hawaii war der erste Staat, der Plastiktüten vollständig verbot. Kalifornien zog 2016 nach und untersagte die kostenlose Abgabe. Auch New York verabschiedete später ähnliche Regelungen. Städte wie San Francisco und Washington D.C. gingen noch früher voran und führten Gebühren ein, die den Verbrauch deutlich reduzierten. Diese lokalen Initiativen zeigen, dass selbst in einem so heterogenen Land effektive Lösungen möglich sind.

Das Verbot mit einer Hintertür

Jetzt zurück zu uns — wir wären nicht in Deutschland, wenn es nicht auch beim Verbot der Plastiktüte eine seltsame Spezifizierung gäbe: Bei uns sind vor allem „leichte Plastiktüten“ mit einer Wandstärke von bis zu 50 μm verboten. Dickere Varianten hingegen — die laut mancher Politiker:innen angeblich für den Mehrfachgebrauch gedacht sind — bleiben im Einzelhandel erhältlich. Und dann gibt es noch die „sehr leichten Plastiktüten“ mit einer Wandstärke von bis zu 15 μm: Für sie gilt eine besonders einfallsreiche Ausnahme, die sie vom Verbot ausnimmt.

Diese sehr leichten Plastiktüten, man nennt sie auch „Hemdchenbeutel“, sind laut dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) weiterhin erlaubt — mit einer lustigen Begründung. Es gäbe „kaum umweltfreundliche Alternativen“ zu diesen Tüten, heißt es. Sie sollen vor allem zur Verpackung loser Lebensmittel dienen und dadurch Lebensmittelverschwendung vermeiden. Das BMUV argumentiert: Würden sie heute verboten werden, kämen neue (Vor-)Verpackungen auf den Markt, was wiederum zu mehr Verpackungsabfall führen würde. Ein kurioser Kompromiss, der das eigentliche Ziel des Plastiktütenverbots durchaus in Frage stellt.

Auch das BMUV ist sich der Tragweite dieser Ausnahme bewusst: Auf seiner Website gibt es zu, dass allein im Jahr 2021 in Deutschland etwa 2,3 Milliarden dieser besonders leichten Plastiktüten verwendet wurden. Die Hoffnung bleibt, dass Handelsketten freiwillig auf abfallvermeidende Alternativen umsteigen — eine Strategie, die allerdings eher auf Optimismus als auf klare Regulierung setzt. Aus meiner Beobachtung haben die Hemdchenbeutel im Alltag längst die Rolle der dickereren Plastiktüten übernommen — nur eben in einer etwas improvisierten Form. Zur Not stülpt man einfach zwei oder drei dieser dünnen Tüten übereinander, und schon erfüllen sie denselben Zweck. Das sehe ich täglich, und jede andere Interpretation scheint an der Lebensrealität der Menschen vorbeizugehen.

Gibt es überhaupt Alternativen?

… Ja, aber Bioplastiktüten sind es nur sehr bedingt. Kunststoffe aus Pflanzen wie Zucker, Kartoffeln oder Mais klingen auf den ersten Blick nachhaltig, aber auch sie haben ihre Tücken. Sie bauen sich weniger schnell ab, als viele Menschen glauben, und der Anbau der Rohstoffe für ihre Herstellung geht oft mit massivem Pestizideinsatz und Monokulturen einher. Der WWF stellt fest: „Ein Großteil der zurzeit als ‚biologisch abbaubar‘ gekennzeichneten Biokunststoffe werden nur unter sehr spezifischen Bedingungen abgebaut, die in der Umwelt nicht unbedingt gegeben sind.“ Außerdem verleiten Bioplastiktüten oft dazu, sorglos entsorgt zu werden, was das Problem nur verschärft.

Selbst eine Papiertüte ist keine perfekte Alternative zur Plastikvariante, bietet jedoch einige Vorteile: Sie wird besser recycelt und gelangt seltener in die Natur, wo sie dank ihrer schnell zerfallenden Papierfasern weniger lang schaden anrichtet. Viele Papiertüten bestehen zudem aus Recyclingpapier, was ihre Umweltbilanz verbessert. Aber Vorsicht: Nicht nur das eigentliche Material entscheidet über die Umweltfreundlichkeit — die energetischen Unterschiede bei der Herstellung spielen ebenfalls eine große Rolle. Die Produktion von Papier kann energieintensiv sein und viele Ressourcen verbrauchen, u.a. in allen industriellen Prozessen, v.a. im Vergleich zu leichteren Plastiktüten. Diese Faktoren sollten also nie außer Acht gelassen werden.

Sollte der Einsatz einer Papiertüte unumgänglich sein, ist es wichtig, sie so oft wie möglich wiederzuverwenden. Weitere gute Alternativen sind wiederverwendbare Taschen aus recycelten Materialien, Baumwollbeutel, Netzbeutel für Obst und Gemüse oder sogar geflochtene Körbe.

Der Schlüssel liegt darin, auf das zurückzugreifen, was wir bereits besitzen, und es so oft wie möglich wiederzuverwenden.

Und last but not least, mein Favorit: Pilzverpackungen! Mir ist es ein Rätsel, wieso Mycelien noch kein Mainstream sind, gewinnen sie doch im nachhaltigen Verbrauchermarkt zunehmend an Bedeutung. Verpackungslösugen aus Pilzen (oft auch in Kombination mit Hanf) sind nicht nur wasserdicht, sondern vollständig biologisch abbaubar. Auf dem Kompost zersetzen sie sich innerhalb von etwa 30 Tagen.

Du hast es in der Hand!

Die gefährlichste Straße Deutschlands? Das bleibt mindestens Ansichtssache. Sicher ist: Plastiktüten haben dort, wie überall, nichts mehr verloren. Um die Mitwelt zu schützen und den Verbrauch von Plastiktüten zu reduzieren, gibt es eine einfache Lösung, die jeder direkt umsetzen kann — und zwar ohne teure Neuanschaffungen: Nutze, was du bereits zu Hause hast. Ganz gleich, ob es alte Baumwolltaschen, gebrauchte Plastiktüten oder Papiertüten sind — der Schlüssel liegt in der Wiederverwendung.

Manchmal scheitert es im Alltag nur daran, die Tasche rechtzeitig mitzunehmen. Hier können kleine Tricks helfen: Stell dir eine Erinnerung auf deinem Smartphone ein oder klebe einen Post-It an die Wohnungstür, damit du vor dem nächsten Einkauf daran denkst. So vermeidest du nicht nur unnötigen Abfall, sondern schonst auch Ressourcen, die für die Produktion neuer Tragetaschen benötigt würden.

Plastiktüten wirken auf unterschiedliche Arten zerstörerisch. Klima-Aspekte werden durch ihre Herstellung tangiert, aber Aspekte wie saubere Lebensräume und Biodiversität sind vielfach direkter und unmittelbarer betroffen. Wir würden die emotionale Diskussion rundum Mikroplastik nicht in dieser Intensität führen, wenn bereits früher auf den umfangreichen Alltagsgebrauch von Plastik verzichtet worden wäre. Klar — der Verzicht auf die Plastiktüte reicht bei Weitem nicht aus, um diese diversen Probleme effektiv und global zu adressieren. Es kann und darf nicht dabei bleiben! Aber ein kleiner Anfang ist besser als nichts. Auch Veränderungen wie diese tragen dazu bei, die Umweltbelastung zu reduzieren — nicht nur am 3. Juli, dem Internationalen Plastiktütenfreien Tag, sondern an jedem Tag des Jahres. Nachhaltigkeit beginnt oft mit den kleinsten Schritten, und genau diese können einen großen Unterschied machen.

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